Belastungssituation aufgrund von Klagen nach der Fluggastrechteverordnung

Die hessische Justiz ist wegen des Großflughafens Frankfurt stark mit Fluggastsachen belastet. Der Anteil entsprechender Klagen am Gesamtaufkommen der Eingänge hat sich seit dem Jahr 2015 am Amtsgericht Frankfurt am Main mehr als verdoppelt. Im Jahr 2019 werden beim Amtsgericht Frankfurt bis zu 16.000 Reisesachen eingehen, wobei es sich in aller Regel um Fluggastsachen nach der FluggastrechteVO wegen Verspätungen und Flugausfällen handelt. Dies führt zu Problemen im Geschäftsbetrieb. Die Belastungsquote liegt derzeit bei ca. 200% des nach dem Personalbemessungssystem vorgesehenen Personalschlüssels im Geschäftsstellen- bzw. 170% im richterlichen Bereich. Es bilden sich insbesondere auf den Geschäftsstellen gegenwärtig erhebliche Rückstände. Die Verfahrenslaufzeiten steigen dadurch bereits an.

Überdurchschnittlich viele Verfahren enden ohne sachliche Auseinandersetzung zum Grund der Flugstörung mit einem Anerkenntnisurteil, einer Klagerücknahme, einer übereinstimmenden Erledigungserklärung oder einem Urteil, dem keine Verteidigung gegen den Anspruch vorangegangen ist. Dies führt aber bei der Dezernatsarbeit und der Aktenverwaltung auf der Geschäftsstelle und im Kostenfestsetzungsverfahren zu keiner ausreichenden Entlastung. Die hohe Zahl rechtlich einfach strukturierter Verfahren bedeutet einen großen Aktenverwaltungsaufwand. Darunter leidet auch die Arbeitszufriedenheit der Kolleginnen und Kollegen, da die eigentliche Rechtsfindung merklich zugunsten einer bloßen Fallverwaltungstätigkeit zurückgeht.

Nach Schätzungen informierter Beteiligter aus dem Inkassobereich werden derzeit nur 15-20% der bestehenden Ansprüche überhaupt bei den Fluggesellschaften zur Erstattung angemeldet. Es handelt sich aber um einen wachsenden Markt. Die Inkassounternehmen bewerben ihr Angebot aktiv und erfolgreich in allen Medien. Zudem schreitet die Entwicklung der computerisierten Fallbearbeitung stetig fort. Auch die Anzahl der weltweiten Flugbewegungen nimmt trotz Klimadebatte kontinuierlich zu. Es ist daher abzusehen, dass mit einer weiteren Zunahme der gerichtlichen Verfahren zu rechnen ist, selbst wenn singuläre Ereignisse, wie die außergewöhnlich hohe Zahl von Verspätungen und Ausfällen im Jahr 2018, künftig vermieden werden könnten.

Der Richterbund Hessen befürchtet, dass die hohe Zahl solcher unstreitig bleibender Bagatellverfahren zulasten wichtigerer rechtsstaatlicher Aufgaben der Amtsgerichte in der Zivilrechtspflege aber auch – bedingt durch mögliche Personalverlagerungen – in der sicherheitspolitisch bedeutenden Strafrechtspflege und den grundrechtssensiblen Bereichen des Familienrechts und des Betreuungsrechts gehen könnte. Es gilt zudem zu vermeiden, dass die Attraktivität des amtsrichterlichen Dienstes leidet und die ohnehin angespannte Nachwuchssituation auf allen Ebenen des Justizdienstes sich weiter verschärft.
Zunächst ist durch erhebliche Personalaufstockung sicherzustellen, dass die Funktionsfähigkeit der amtsgerichtlichen Zivilrechtspflege erhalten bleibt. Solche Maßnahmen stoßen jedoch an Grenzen, die in der engen Raumsituation und den endlichen Möglichkeiten der Gewinnung geeigneten Personals, insbesondere im durch Personalwettbewerb geprägten Rhein-Main-Gebiet, begründet sind.

Aus unserer Sicht kann eine nachhaltige Lösung des Problems, abgesehen von privatautonomen Klagevermeidungsabkommen der beteiligten Unternehmen, nur auf der Ebene des Gesetzgebers gefunden werden. Art. 16 Abs. 3 der FluggastrechteVO sieht nämlich vor, dass die von den Mitgliedstaaten für Verstöße gegen die Fluggastrechteverordnung festgelegten Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen. Angesichts der Vielzahl der in der Sache unstreitig bestehenden aber außergerichtlich nicht erfüllten Ansprüche und der weit überwiegenden Zahl stattgebender Entscheidungen dürfte der damit geforderte Rechtsstand noch nicht erreicht sein.

Ziel gesetzgeberischer Initiative sollte sein, dass im Regelfall nur rechtlich umstrittene Fälle, die einer berufsrichterlichen Sachentscheidung und des Einsatzes der knappen staatlichen Ressourcen wirklich bedürfen, zu den Gerichten gelangen. Unstreitig entschädigungspflichtige Flugstörungen müssen außergerichtlich reguliert werden. Die Zivilrechtspflege ist mit der durch Art. 16 Abs. 3 FluggastrechteVO gestellten Aufgabe jedenfalls überfordert.

Der Richterbund Hessen regt daher an, dass geprüft werde, ob die bisher bestehenden Möglichkeiten der Verhängung von Bußgeldern nach § 108 Abs. 2 LuftVZO (Geldbuße bis 30.000 €) ausreichend sind, oder ob es – vergleichbar im Kartell-, Bank- oder Versicherungsrecht – effektiver Bußgeldhöhen bedarf, die sich am Gesamtumsatz der betroffenen Luftfahrtunternehmen orientieren und die den wirtschaftlichen Vorteil des Gesamtaufkommens einer zögerlichen Entschädigungspolitik abschöpfen bzw. ein Mehrfaches davon betragen.
Darüber hinaus sollten weitere Modelle der Sanktionierung geprüft werden und gegebenenfalls kurzfristig auf den Weg der Gesetzgebung gebracht werden, wie z.B. die Einführung einer automatischen Entschädigung oder die Verpflichtung der Luftfahrtunternehmen zu einem Anspruchsmanagement, das eine zeitnahe Auszahlung durch geeignete Verfahren und Vorkehrungen sicherstellt. Auch die Ausweitung der Musterfeststellungsklage betreffend verspätete oder ausgefallene Verbindungen sollte erwogen werden.

Unabhängig davon sollten feststellbar systematisch verzögernde Entschädigungspraktiken daraufhin untersucht werden, ob sie negative Rückschlüsse auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bestimmter Luftfahrtunternehmen im Sinne Art. 9 VO (EG) Nr. 1008/2008 zulassen und ob die vom Lauterkeitsrecht gesetzten Grenzen geschäftlichen Handelns gewahrt sind.

Verfasser / Pressekontakt:
Dr. Johannes Schmidt
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